Meinen Vornamen verdanke ich einem Buch. Meine Mutter ist am Abend vor meiner Geburt in einen Roman über die byzantinische Prinzessin Irene von Trapezunt vertieft, als sie bemerkt, dass die Wehen einsetzen. Die Klugheit, Schönheit und Beharrlichkeit meiner Namensgeberin scheinen dermaßen eindrücklich beschrieben worden zu sein, dass meine Mutter beschließt, eine nicht minder kluge, schöne und beharrliche Irene zur Welt zu bringen, sofern das zu erwartende Kind ein Mädchen werden sollte. Und tatsächlich, kaum geboren, liege ich, Irene, in meiner Wiege und daneben, auf einem Stühlchen sitzt mein Bruder. Dreieinhalb Jahre älter als ich ist er. Aus meiner Sicht sehr welterfahren und ungeheuer belesen. Sein Wissen teilt er nur zu gerne mit der neuen kleinen Schwester. Wie oft wurde ihm in den Monaten und Wochen vorher erzählt, nun käme ja bald das kleine Geschwisterchen, mit dem er bald, ganz bald, spielen könne. Es soll jedoch noch eine Weile dauern, bis ich mich krabbelnd und Spielzeugautos schiebend mit ihm gemeinsam über den Teppich bewege. Bis dahin begnügt sich sich mein großer Bruder gerne und liest mir vor. Er nimmt eine wichtige Rolle ein, die er meisterhaft ausführt. Alle seine Lieblingsbilderbücher rezitiert er eng an meiner Seite. Auswendig versteht sich.
Und so höre ich schon in meinen ersten Lebenswochen von einer bunten, lustigen und abenteuerlichen Welt.
Es sind Geschichten von kleinen Jungen und neugierigen Vierbeinern, die die Grenzen des Möglichen erkunden und am Abend erleichtert feststellen, wie gut es doch ist, zu wissen, wo das eigene Bettchen steht. Auch ich schlafe sehr wahrscheinlich das eine oder andere Mal erschöpft über dem Erlebten und Gehörten ein.
Meine Eltern scheuen keine Kosten und Mühen, die schönsten Bücher bei uns ins Haus einziehen zu lassen. Und diese sind rar in der DDR. Wie gut, dass meine Mutter Buchhändlerin ist und beim früheren Chef, in der Buchhandlung Schellbach, stets ausgewählte Bücher für sie zur Seite gelegt werden.
Spielt es eine Rolle, wie schwierig es ist, an Bücher heranzukommen, um sie wirklich zu lieben und jedes Einzelne zu hüten wie einen Schatz?
Und sehr wahrscheinlich habe ich als Vierjährige auch gar nicht Viele, vielleicht zehn oder fünfzehn Verschiedene, aber was macht das schon? Ich habe Eltern die mir vorlesen so oft es ihnen möglich ist und irgendwann kann auch ich diese Bücher auswendig sprechen. Dass dann für mich jedoch keine kleine Schwester mehr kommt um meinen Worten zu lauschen und nur meine Puppen und Teddybären als Publikum herhalten können, empfinde ich als große Ungerechtigkeit.
In der Wohnung meiner Kindheit stehen viele Bücherregale. Nein, eigentlich sind es keine Regale. Es sind richtige Schränke. Mehrere alte, verzierte Holzschränke mit Türen, deren Glas kunstvoll geschliffen ist.
Schätze gehören in Schatzkisten, das begreife ich früh.
Im langen, schmalen Flur steht ein eher schlichtes, moderneres, halbhohes Modell mit großen durchsichtigen Glasschiebetüren. Es ist der Bücherschrank meines Großvaters, ein leidenschaftlicher Büchersammler. Nach seinem Tod und nachdem meine Großmutter in den Westen zieht, kommt dieser Schrank in die Wohnung meiner Eltern. Wir erben nicht nur den Schrank, auch der wertvolle Inhalt kommt mit dazu. Vor diesem Schrank im Flur hockend, lerne ich lesen. Hier erschließe ich mir aus einzelnen Buchstaben Silben, aus denen nach und nach Wörter entstehen, daraus wiederum Buchtitel und Namen von Männern und Frauen, die diese Bücher schrieben. Kein Buch gleicht dem anderen, jedes für sich ist einzigartig: Die verschiedenen Farben der Schutzumschläge, die Schriften der Titel auf den Buchrücken – mal quer, mal längs gedruckt. Die Materialien der Einbände und die bunten Lesebändchen, die aus fast allen Büchern unten heraushängen wie kleine Schwänzchen. Ich komme nicht auf die Idee, diese Bücher hervorzuholen und zu schauen, was sich hinter den Titeln verbirgt. Niemand verbietet mir, die Türen zu öffnen aber instinktiv weiß ich, dass diese Bücher meinem Alter nicht entsprechen.
Doch allein ihre beständige Anwesenheit beruhigt mich schon damals ungemein.
Zwei wichtige Ereignisse fallen auf ein gemeinsames Datum: am 1. September 1982 komme ich in die Schule und meine Mutter erfüllt sich mit der Eröffnung einer eigenen Buchhandlung ihren Lebenstraum. Ersteres musste zwangsläufig so geschehen, Zweiteres ist zu der Zeit und unter den gegebenen Umständen schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit zu nennen. Meine Mutter darf sich in der DDR mit Unterstützung eines führenden Funktionärs des Kulturrates der Stadt mit einer christlichen Buchhandlung selbständig machen, nachdem sie das Ladengeschäft samt Einrichtung von einem in den Ruhestand gehenden Briefmarken- und Buchhändler übernimmt. Ab sofort pendelt meine kleine Welt zwischen unserem zu Hause, der Schule und der Buchhandlung hin und her. In dem 15 Quadratmeter kleinen Lädchen mache ich nach der Schule Hausaufgaben und, was mir viel wichtiger erscheint, die ersten Erfahrungen im Umgang mit einer lesehungrigen Kundschaft.
Lesehunger, den kenne ich gut.
Ein paar Jahre meiner Kindheit lang ist er nicht zu stillen. Ich verschlinge alle Kinder- und Jugendbücher, die mir in die Finger kommen und die der Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel hergibt. Einer kleinen privaten Buchhandlung werden nur wenige der begehrten Titel zugewiesen. Ich bin jeden dritten Tag in der Bibliothek, die glücklicherweise direkt gegenüber meiner Schule liegt. Doch es kommt der Moment, in dem ich nichts, wirklich gar nichts mehr, zu lesen habe und meine Mutter mit mir die Antiquariate der Stadt nach Lesestoff durchkämmt und wir sogar als letzte Hoffnung der Konkurrenz, der „Volksbuchhandlung“, unseren Besuch abstatten.
Meine damals beste Freundin entstammt genau wie ich einer Buchhändler- und Verlegerfamilie und ich bin mir heute nicht sicher, wen oder was ich mehr liebte: Franziska oder ihr großartig ausgestattetes Bücherregal im Kinderzimmer.
Wahrscheinlich ist es die Großherzigkeit dieser Freundin und ihr Vertrauen, mir alle ihre Bücher nach und nach leihweise zur Verfügung zu stellen.
Im zweiten Schuljahr darf jedes Kind meiner Klasse sein Lieblingsbuch mit in den Unterricht bringen und einen Abschnitt daraus vorlesen. Es ist ein eher dünnes Büchlein, welches ich für diesen Zweck auswähle. Es erzählt von einem Mädchen namens Jana und ihrem Abenteuer mit einem kleinen Stern, welcher ihr abends unversehens auf das Fensterbrett fällt. Noch ehe der Tag kommt, muss der kleine Stern wieder zurück an den Himmel gelangen, sonst droht ihm die Gefahr zu erlöschen. Mit Janas Unterstützung wird nun versucht, den Stern wieder an seinen hohen Platz zu bringen. Der herbei gerufenen Nachtigall gelingt es nicht, dem Adler ist die Luft zu dünn, doch dem Kosmonaut gelingt schließlich die heldenhafte Tat und so blinkt der kleine Stern bald wieder Abend für Abend am Himmel und zwinkert seiner Freundin aus der Ferne zu. Diese Geschichte berührt meine kleine Seele. Die Spannung einem fernen Freund plötzlich und völlig unverhofft so nahe sein zu dürfen und ihn dann doch um seiner selbst willen wieder loslassen zu müssen, rührt mein Herz beim Lesen zu Tränen. Es ist der Schmerz, den ich noch heute spüre, wenn ich jemand Lieb gewonnenes seiner Wege ziehen lassen muss, eine intensiv gelebte Zeit zu Ende geht und kurz darauf wieder Stille, Leere und Altvertrautes einzieht.
Doch Jana zeigt mir auch früh, dass alles möglich ist: aufstehen, das Haus verlassen, wandern, kämpfen, verhandeln, nach Sternen greifen und den einen oder anderen davon sogar berühren.
Blicke ich heute zurück auf mich als lesendes Kind, sehe ich mich auf dem Bauch liegend auf einem Sofa, welches in einer Art Erker ohne Fenster, einem Alkoven, im Wohnzimmer steht. Das ist der Platz, in dem ich vorzugsweise Märchen aus aller Herren Länder lese. Auf einem zweiten Sofa des Wohnzimmers sitze ich mit meiner Mutter. Sie hält mich umschlungen, in unserer Mitte das Buch, aus dem sie mir vorliest, selbst dann, als ich schon längst selber lesen kann.
Ein weiterer Platz ist das Fensterbrett meines Kinderzimmers, welches ich gut mit Kissen und Decken polstere. Es ist breit genug, um bequem darauf sitzen zu können und aus dem warmen Zimmer hinunter auf die Strasse und auf das gegenüber, hoch oben auf einem Felsen thronende Schloss der Stadt zu blicken. Ich sehe den vorbei fahrenden Autos hinterher, beobachte Menschen, die ihre Runden im kleinen Park gegenüber drehen oder am Teich die Enten füttern. Am frühen Abend sind es die Paare, die in edler Garderobe in das nahe gelegene Theater eilen.
Von diesem Fenster sehe ich auch täglich die Frau mit dem schiefen, leicht verzerrten Gesicht, der großen Nase, den abstehenden Ohren und den strähnigen, zu einem Zopf gebundenen Haaren, deren Namen ich nicht weiß, deren Alter ich nicht schätzen kann und die schon hier vorbei gelaufen sein muss, als es mich noch gar nicht gab. Sie schiebt einen Kinderwagen, einen richtig großen, echten Kinderwagen. Darin eine hübsch ausstaffierte, steif da sitzende Puppe. Kippt die Puppe im Wagen um, hält die Frau an und setzt sie liebevoll wieder auf. Sie gibt ihr aus einem im Kinderwagennetz verstauten Fläschchen ein paar Schlucke zu trinken und trottet weiter. Sie bleibt aber auch oft stehen, um sich selbst mit einem Tuch das Kinn trocken zu tupfen. Wir Kinder nennen sie heimlich „die Sabberliese“ wenn wir über sie sprechen.
Ich sitze am Fenster und was ich da sehe, vermischt sich mit den Geschichten des Buches in meiner Hand zu einem bunten Panoptikum, ja, zu einer Art Wunderkammer.
Sie beflügelt meine Fantasie, schärft meine Beobachtung, meinen Blick auf die Welt, eröffnet mir fernab der Realität ganz fremde Welten und lässt mich sicher auch manch einsame Stunde vergessen.
Wen wundert es, dass ich einige Jahre und viele Kapitel später selber eine Buchhändlerin werde.
Es ist keine Entscheidung, eher der Wunsch, dem Vertrauten noch etwas länger ganz nah sein zu dürfen. Und weil es sich seltsam und nicht richtig anfühlen würde, einen ganz anderen Weg zu wählen, als den, den der Urgroßvater schon gegangen ist, die Mutter, der Vater und der Bruder.
Foto: Emgert Zondervan