Wunder werden wahr

Die Mauer war da, seit ich denken konnte. Sie trennte Verwandte und Freunde von uns. Als Kind habe ich sie nie infrage gestellt. Und nie daran gedacht, dass es anders sein könnte. 

Im Herbst 1989 begann eine turbulente Zeit, die ich mit meinen dreizehn Jahren in ihrer politischen Tragweite nicht erfassen konnte. Aber dieses schwer zu beschreibende Gefühl der Aufregung, Angst, Spannung und Euphorie überkommt mich noch heute, wenn ich daran denke.

Als die Mauer fiel und das Ministerium für Staatssicherheit, kurz Stasi, in der DDR entmachtet war, verflog für mich eine unterschwellige Furcht davor, dass meine Eltern irgendwann abgeholt werden könnten – vor allem mein Vater, der sich nicht an das System anpasste. Oder dass er plötzlich untertauchen würde. Meine Eltern hatten uns Kindern öfter angedeutet, dass es sein könne, dass er oder sogar sie beide eines Tages nicht nach Hause kommen würden. Und sie hatten einen Plan entworfen, was dann zu tun sei. So war diese Zeit geprägt von Angst um meine Familie, von Hoffen und Bangen. Meine Eltern selbst wirkten überzeugt und sicher, gar nicht ängstlich bei dem, was sie taten und dachten. Das wiederum beruhigte mich.

Viele kleine Lichter

Oft lag ich abends noch lange wach in meinem Bett. Ich schickte meine kindlichen Gebete zum Himmel und zitterte. Einschlafen konnte ich erst, wenn ich den Schlüssel im Schloss hörte, das Zeichen, dass mein Vater wohlbehalten aus dem vierzig Kilometer entfernten Leipzig zurückgekehrt war.

Bei den Demonstrationen und den Friedensgebeten in verschiedenen Kirchen meiner Heimatstadt war ich ein paar Mal dabei. Ich erinnere mich an eine heitere, fast fröhliche Stimmung. An die Verblüffung der Menschen über sich selbst und ihren Mut. Ich erinnere mich an viel Licht. An Kerzen, die von Hand zu Hand gereicht wurden. An Kerzen, die in Fenstern standen. Ich erinnere mich an die Gebete und die inbrünstig gesungenen Lieder, vor allem „Großer Gott, wir loben dich“. Ich erinnere mich an ein warmes Gefühl tief in mir drin und an mein Wissen: Wir sind sehr viele und wir sind uns einig. Wir wissen zwar nicht, ob wir mit einer Revolution rechnen dürfen, noch dazu mit einer friedlichen, doch Gott ist mit uns.

Ein langer Abend

An einem Donnerstagabend ging ich nach dem Konfirmandenunterricht direkt zum Geburtstag der Schwester meiner besten Freundin. Meine ganze Familie kam später dazu, denn auch unsere Eltern waren miteinander befreundet. Außerdem war geplant, in den vierzigsten Geburtstag meiner Mutter am 10. November hineinzufeiern. Irgendwann an diesem Abend trug einer der Freunde meiner Eltern die Botschaft in die Runde, dass in Berlin die Mauer gefallen sei. Einen Fernseher, an dem man das Gehörte in Bildern bestätigt fand, gab es nicht. Wir hingen am Radio. Das System war gestürzt. Es wurde ein langer Abend.

Begeistert ging ich am nächsten Tag zur Schule. Dort prallten aufgeregte Schüler mit ratlosen Lehrern zusammen. Die Schulklassen waren im November und Dezember 1989 zeitweise fast leer. Viele Eltern unternahmen spontan mit ihren Kindern einen Tagesausflug in den Westen. Ich fuhr mit meiner Familie erst einige Wochen später, zwischen Weihnachten und Neujahr, das erste Mal über die Grenze nach Bayern. Mir wäre es damals lieber gewesen, wir hätten uns alles sofort angeschaut. Doch plötzlich hatten meine Eltern keine Eile mehr. Das konnte ich nicht verstehen, war irritiert und dachte: Warum müssen meine Eltern eigentlich immer anders sein als die anderen?

Wunder werden wahr

Ohne die „Wende“ wäre mein Leben wohl völlig anders verlaufen. Oft kommt mir die Welt, in der ich aufgewachsen bin, so unwirklich vor. Plötzlich taten sich viele neue Chancen für mich auf. Und ich ergriff sie beherzt. Nun durfte ich Abitur machen, studieren, die Welt kennenlernen, einen Westfalen heiraten und mit ihm eine Familie gründen. Ich darf meinen christlichen Glauben leben und aktiv gestalten. All das wäre in der DDR nicht selbstverständlich gewesen. Gerade das macht es mir umso wertvoller.

Rückblickend auf die Geschehnisse der damaligen Zeit soll der einst hohe politische Funktionär der SED-Partei, Horst Sindermann, gesagt haben: „Wir waren auf alles vorbereitet. Nur nicht auf Kerzen und Gebete.“ Auch heute noch, dreißig Jahre später, macht mir die Geschichte meiner Kindheit Mut. Ich rechne mit Wundern in meinem Leben, da ich etwas Ungeheures, nie Dagewesenes erlebt habe. Ein Ereignis mit weitreichenden Folgen.

Ich habe hautnah erfahren, dass etwas schier Unmögliches möglich wurde. Das gab mir einen außergewöhnlichen Optimismus mit auf den weiteren Weg. Und ich nehme Gebet ernst. Wenn ich für eine Sache bete, die mir wichtig ist, habe ich oft den Ausgang des Ganzen nicht im Blick. Doch ich bete um Vertrauen darum, dass Gottes Wege und Mittel meinen Verstand übersteigen können. Dass Gott sich sicher etwas einfallen lässt, wie Veränderung in meinem Leben und im Leben anderer möglich werden kann. Das Beten hilft mir manchmal auch nur, den nächsten Schritt zu wagen. Oft denke ich an die Kerzen und die Gebete in meiner Heimatstadt und in allen Städten der damaligen DDR. Dann nehme ich mir vor: Ich möchte darauf vorbereitet sein, dass mein Beten etwas bewirkt.

Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 ist ein Wunder! Ein Wunder, das Gott bewirkt hat und für das ich ihm nicht genug danken kann.

Foto: privat

 

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